Lebenslauf

1955
Geboren am 21. Januar in der Ostschweiz; lebt und arbeitet im Tessin (CH) und in der Toscana (I)
1976-78
Accademia delle Belle Arti, Brera, Milano, Italia – Scultura
1978-82
Universität Gesamthochschule Kassel (D), Fachbereich freie Kunst – Bildhauerei
1982
Diplomarbeit «Natur – Technik – Ästhetik»
1985-92
Pietrasanta, Italia – Sculture in bronzo
1993
Associato VISARTE Ticino

 

 

Zwischen Chaos und Ordnung

Steff Lüthi ist ein Künstler, der schwer einzuordnen ist und lieber gegen als mit dem Strom schwimmt.

Raumbegriff

Schon als Jugendlicher war er fasziniert vom Raum und dem Beseelen des Raumes. Dies reflektieren seine ersten künstlerischen Arbeiten: ausgehöhlte Hölzer.
In Joseph Beuys’ Auseinandersetzung mit den Gegensätzen, Wärme und Kälte, Evolution und Erstarrung, Kreativität und Rationalisierung, seiner Suche nach dem verlorenen „ganzen“ Menschen und in der Bewegung der 68er Jahre, erkennt sich Steff Lüthi wieder und setzt dies in eigene Arbeiten um. Er gibt seine Skulpturen – aber auch sich selbst – der Erosion preis und drückt damit die Fragilität der eigenen Psyche und die der Nacktheit seines Körpers gegenüber Gesellschaft und Natur aus: „Ich pfeiffe auf Ästetik und gehe weiter“ bekennt er.
Seine Raumsuche weitet sich auf die Landschaft aus, es entstehen Bleistiftzeichnungen, die er in Kaltnadel- und Ätzradierungen umsetzt. „Wer nicht fliegen kann ist nicht über den Berg“, betitelt der Künstler eine seiner Arbeiten. Der Enge entfliehen, Ausbrechen aus starren Strukturen, ob aus der eigenen oder jener von Gesellschaft und Heimat, gehören zu dieser Sturm- und Drangzeit. Steff Lüthi drückt es mit einem, im Schweizerkreuz gefangenen Vogel aus.
Ja, kein Wunder, dass ihm die kleine Schweiz immer wieder eng wird. Er entrinnt in die Vereinigten Staaten, besucht Haiti und erfährt diese Reise als heisskaltes Wechselbad von Erfahrungen. Das unmittelbare Nebeneinander von reich und arm gräbt sich tief in sein Bewusstsein ein.

Das Erproben der Elemente

Die Elemente regen Steff Lüthi zu komplexen und komplizierten Projekten an. Für deren Ausführung weiss er Fachleute zu begeistern, mit denen er die Ideen umzusetzen versucht. Er wohnt nun bereits im Tessin und erprobt in der Schlucht von Ponte Brolla feuerspeiende Handschuhe, mit denen er drachengleich zu entfliegen droht. Die Gegensätze Feuer und Eis inspirieren den Künstler zu einem Projekt, das als „interkulturelle Aktion zur Förderung des gegenseitigen Kulturverständnisses“ und als Plädoyer für die Nutzung von Sonnenenergie gedacht ist und durch ganz Europa nach Afrika bis zum Äquator reisen sollte. Die mit Solarenergie betriebene Maschine lässt Wassertropfen an Wassertropfen gefrieren. Eiszapfen entstehen und schmelzen: „Durch das Feuer der Sonne wird Wasser zu Eis. Aus dem Chaos wird Ordnung und die Ordnung wird zum Chaos…“

In diese Zeit fällt seine Familiengründung. Doch dann zieht es ihn wieder in die Ferne, diesmal nach Italien, und er nomadisiert während sieben Jahren zwischen seinem Atelier in Pietrasanta und seinem Wohnsitz im Tessin. Erneut beschäftigen ihn Innen- und Aussenraum: es entstehen filigrane Skulpturen aus Pflanzenteilen, Ästen, Gräsern und Blumenstengeln, die er in Bronze giesst. Der Tod eines Freundes wirft Fragen nach der Vergänglichkeit des Menschen auf. Sie münden in die Figur des Ikarus. Damit ist sein erster Mensch geboren, ein Thema, von dem er nun nicht mehr loskommen soll, auch wenn das der erneuerbaren Energie und der Elemente aktuell bleibt und als „Solararche“ und als „fliegendes Ei“ neue Formen findet.

Menschen und Kosmos

Der Golfkrieg wirkt sich in der Arbeit des Künstlers wie ein Paukenschlag aus. Die Grausamkeit, zu der der Mensch dem Menschen gegenüber fähig ist, schockiert ihn zutiefst. Wie steht es mit der Hoffnung auf Evolution, wohin hat uns die Entwicklung – von Ikarus über die Erfindung des Rades zur heutigen Technik – geführt? „Wir sind seltsame Tiere“ nennt er eine erste Installation mit den kleinen Menschen. Die Sinnfrage treibt ihn um, die menschliche Endlichkeit und die kosmischen Unendlichkeit: woher komme ich, wer bin ich, wohin gehe ich? Er setzt seine Figuren an den Rand von Schalen (Messing/Bronze), deren Innenleben an kosmische Wirbel erinnert. Steff Lüthi nennt sie Sphären oder Galaxien. Die kleinen Kreaturen, darunter auch Beuys, drückten in ihren verschiedenen Posen ihre Befindlichkeit zu diesen Fragen aus (wo befinde ich mich gerade jetzt?), darunter erkennt man geflügelte Wesen. Sind es Engel, die auf diese Fragen bereits Antwort gefunden haben und zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit Verbindung schaffen? Eine Vorstufe dazu vielleicht jene, die sich – mit Flossen und Taucherbrille ausgerüstet – ins Sphärenwasser wagen. Dieses Thema hat der Künstler auch als Brunnen im Auftrag für den „Giardino dell’Arte – Piccola Venezia“ im Tessin verwirklicht. Die „Fontana Galaxis“, steht vor der Villa des Besitzers auf einem grossen Platz und bezaubert durch ihr beinah schwebendes Konzept. Andere Arbeiten erinnern an den Turm von Babel. Am Rand riesiger Eisentürme sitzen die kleinen Menschen verloren über dem Abgrund. Auf dem Grimselpass hinterlässt Lüthi auf einem Felsen für längerer Zeit eine kleine Bronzefigur in Denkerpose. Ein (fast unsichtbares) Mahnmal? Ein Denk-Mal?

Mir scheint, Steff Lüthi habe sich vom Provokateur zum Visionär entwickelt. Mit seinen früheren Arbeiten provozierte er, stellte sich quer, brach aus, überschritt Grenzen, kämpfte mit Elementen und Gesellschaft und brachte sich dabei immer wieder selbst als Performer ein. Seit der Mensch in seiner Arbeit aufgetaucht ist kommt es mir vor, als ob dieser den Finger auf die Wunden unserer Gesellschaft, unserer heutigen Art zu sein und zu leben legen würde. Die bronzenen Figuren – seine Alter Ego – rufen zum Innehalten und Nachdenken auf.
Gehört es nicht mit zu den Aufgaben eines Künstlers Brücken in die Zukunft zu schlagen, Visionen anzubieten?

Minusio, Sommer 05
Tina Stolz